Rezension

Hans-Jürgen Weißbach, Michael Florian, Eva-Maria Illigen, Gerd Möll, Andrea Poy und Barbara Weißbach: Technikrisiken als Kulturdefizite. Die Systemsicherheit in der hochautomatisierten Produktion. Berlin: Edition Sigma 1994. 288 Seiten. ISBN 3-89404-375-X.

Rezension aus: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1995

"Riskante Technologien" - so der Titel einer aktuellen Einführung von Krohn/Krücken - sind spätestens seit den nunmehr schon klassischen Studien von Ch. Perrow (Normale Katastrophen) und U. Beck (Risikogesellschaft) eines der Gebiete, in dem sich die Soziologie erfolgreich an der Gegenwartsdiagnose beteiligt hat. Insbesondere der Gedanke, daß die Wahrnehmung und Bewertung technischer Risiken auch soziokulturell geprägt ist, hat erheblich zur Entmystifizierung wissenschaftlich legitimierten Expertentums beigetragen.

Üblicherweise wird bei riskanten Technologien an Kernkraftwerke, Gentechnologien oder die Verursacher von Klimaveränderungen gedacht. Die hier zu rezensierende Studie stellt sich die Aufgabe, nun auch neue Produktionstechnologien (numerisch gesteuerte Werkzeugmaschinen, Industrieroboter, fahrerlose Transportsysteme) risikosoziologisch zu betrachten und damit einen Beitrag zur Modernisierung des betrieblichen Arbeitsschutzes zu leisten. In Abgrenzung von einem technisch-objektivistischen Risikobegriff sollen Risiken in vernetzten Produktionsprozessen auch durch verzerrte oder unzulängliche Kommunikationen erklärt werden. Hierbei knüpfen die AutorInnen an den von N.F. Pigeon vorgeschlagenen Begriff der (organisations-, branchen und berufsbezogenen) Sicherheitskultur an und definieren ihn als "System von auf (Un)Sicherheiten bezogenen Bedeutungen und Symbolen, das aus dem kollektiven Umgang mit Unsicherheiten resultiert, das in spezifischen symbolischen, mentalen und praktischen Formen zum Ausdruck kommt und das schließlich dazu dient, in einer bestimmten sozialen Gemeinschaft oder Gruppierung sicherheitsrelevante Wahrnehmungsmuster, Bewertungsstile und Wissensbestände sowie Handlungspraktiken und Artefakte zu erzeugen, mitzuteilen, zu erhalten und weiterzuentwickeln." (77) Damit kehren die AutorInnen die übliche Fragestellung der Risikosoziologie um: Nicht die Kommunikation über Risiken, sondern die kommunikative Erzeugung von Risiken steht im Mittelpunkt ihres Untersuchungsinteresses: "Die Existenz verschiedener Sicherheitskulturen fördert nicht nur die Entstehung unterschiedlicher, dabei hochselektiver Risikodefinitionen, sondern beschränkt auch die Chancen einer kommunikativen Lösung von Sicherheitsproblemen durch wechselseitige Wahrnehmungs- und Sprachbarrieren." (31)

Nach einer kurzen Diskussion der technisch-naturwissenschaftlich orientierten Risikoforschungen wird vor dem Hintergrund der arbeitspsychologischen Fehlerforschung auf die Fehlerträchtigkeit unzureichender Kompetenzen, Fähigkeiten und Routinen und auf die Risiken kollektiv geschaffener Selbstgewißheiten und überkomplexer Informationsangebote hingewiesen. In Anlehnung an K. E. Weick (dessen neuere risikosoziologische Überlegungen ausgeklammert werden) begründet dies die Empfehlung, den Zweifel an der Fehlerfreiheit komplexer Systeme als "organisatorisches Gedächtnis" zu institutionalisieren und Fehler als Lernchance zu begreifen.

In den "empirischen" Kapiteln 6-10 werden auf Grundlage von zwei Intensiv- und sieben Kurzfallstudien "CIM-Risiken" untersucht, d.h. typische Probleme und Fehlerquellen, die mit der Entwicklung und dem Einsatz vernetzter, computerintegrierter Produktions- und Transporttechnologien verbunden sind. Der zugrundeliegende Risikobegriff wird nicht explizit definiert; erst im Schlußkapitel werden Implementations-, Kontextualisierungs-, Initiierungs-, Verifizierungs-, Inferenz-, Akkumulations- und Stabilitätsrisiken systematisch unterschieden. In den Kapiteln 7 und 8 werden am Beispiel numerisch gesteuerter Werkzeugmaschinen verschiedene solcher Risiken ausführlich beschrieben: Maschinen- und Anlagenausfälle, Datenverluste, inkonsistente Datenbestände, Qualitätsprobleme, die Aushandlungs- und Interpretationsprozesse anläßlich der Einführung vernetzter Produktionstechnologien, der Aufwand beim Betreiben von Netzwerkmanagementsystemen, die Interpretations- und Selektionsprobleme beim Einsatz automatisierter Maschinenüberwachungs- und Diagnosesysteme. Die informationstechnologische "Aufrüstung" von Werkzeugmaschinen treibt oftmals die Programmier-, Stillstands- und Umrüstzeiten und damit die Stückkosten in die Höhe und verringert die Flexibilität und die Eingriffschancen des Bedienpersonals. Unklar bleibt jedoch, ob diese Probleme nicht nur von den AutorInnen, sondern auch von den betrieblichen Interviewpartnern als Risiken (d.h. als Nachteile, die einer Entscheidung zugerechnet werden) wahrgenommen werden oder ob sie als quasi naturwüchsig gegebene "Wartungs- bzw. Einführungsprobleme" hingenommen werden. Wenn letzteres der Fall sein sollte, würde die Risikodiagnose der AutorInnen nicht weit von den kritisierten "objektivistischen" Positionen entfernt sein: einige wissenschaftlich legitimierte ExpertInnen weisen die betrieblichen Laien auf neue Risiken hin, deren objektive Existenz unterstellt wird.

Im neunten Kapitel wird herausgearbeitet, daß die Einpassung von Industrierobotern in komplexere Fertigungsysteme eine intensive Kommunikation zwischen dem Anwender und den unterschiedlichen Herstellern erfordert - eine "Risikokommunikation", die allerdings häufig an den "mentalen Schnittstellenproblemen" (208) zwischen verschiedenen Professionskulturen, Hierarchieebenen und Abteilungen scheitert. Gewisse zeitliche Spielräume und eine technische und räumliche Entkoppelung sind wichtige Voraussetzungen für die friktionsärmere Einführung vernetzter Technologien. Dies wird im zehnten Kapitel auch am Beispiel fahrerloser Transportsysteme herausgearbeitet.

Ein wichtiges Ergebnis der Studie ist, daß die Unfallgefahr bei vernetzten Produktionssystemen außerordentlich gering ist, während Fehlfunktionen, Störungen, langwierige Implementationsprozesse die Regel sind. Dies weist einerseits auf bewährte technische Schutzvorrichtungen hin, andererseits auf die Kommunikationsbarrieren etwa zwischen Herstellern und Anwendern, zwischen Instandhaltern und Bedienern, zwischen Steuerungstechnikern und Maschinenbauern. Diesen Vernetzungsrisiken könnte durch interdisziplinäre, zwischenbetriebliche, partizipative Diskursformen begegnet werden. Die Lesbarkeit einiger Kapitel wird durch zahllose Abkürzungen (ohne Abkürzungsverzeichnis), Anglizismen und umfassend erläuterte technische Details beeinträchtigt; insbesondere die Abschnitte 4.2-8 hätten durchaus noch gestrafft und zugespitzt werden können. Insgesamt ist die Arbeit jedoch ein außerordentlich bemerkens- und empfehlenswerter Beitrag zur risiko- und kultursoziologischen Modernisierung der Industriesoziologie - ein Anspruch, den sich die Dortmunder AutorInnengruppe auf ihre Fahnen geschrieben hat.